Oktoberlied
1848
Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk' ein den Wein, den holden!
Wir wollen und den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!
Und geht es draußen noch so toll,
Unchristlich oder christlich,
Ist doch die Welt, die schöne Welt,
So gänzlich unverwüstlich!
Und wimmert auch einmal das Herz -
Stoß an und lass es klingen!
Wir wissen's doch, ein rechtes
Herz ist gar nicht umzubringen.
Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!
Wohl ist es Herbst; doch warte nur,
Warte nur ein Weilchen!
Der Frühling kommt, der Himmel lacht,
Es steht die Welt in Veilchen.
Die blauen Tage brechen an,
Und ehe sie verfließen,
Wir wollen sie, mein wackrer Freund,
Genießen, ja genießen!
Theodor Storm (1817-1888)
Epilog
"Er ist ein Meister, er bleibt", urteilte einst Thomas Mann über den
bärtigen Norddeutschen des poetischen Realismus.
Gemeint ist Theodor Storm,
der uns vor allem als Novellenschreiber bekannt ist.
Im Jahre 1848 entsteht das Gedicht "Oktoberlied".
Da Storm ein leidenchaftlicher Sänger war, der auch vor schweren
Chorsätzen nicht Halt macht liegt es durchaus im Bereich des Möglichen,
dass er die Verse tatsächlich als Liedchen trällerte.
Während die übrigen Werke Storms eher von einer gewissen Melancholie
getragen werden, klingt aus diesen Zeilen ein ungewohnter Lebensdrang,
eine Hoffnung, vielleicht auch Trotz.
Das Jahr 1848 bringt Aufregung. Schleswig-Holstein rebelliert gegen
die regierende dänische Krone.
Der junge Demokrat Storm verfolgt mit großem Interesse die Bemühungen
der Nationalversammlung um eine Verfassung und die Bildung
eines parlamentarischen deutschen Staates.
Die Wiener Ereignisse im Oktober lassen die Hoffnung schwinden.
Der demokratische Flügel steckt in der Sackgasse.
Da schreibt Storm dies Gedicht "in natürlicher Opposition gegen die Politik".
Daher also der ungewohnte Ton dieser Verse.
Storms Blick haftet nicht an der trüben, hoffnungslosen Situation
(Nebel grau), sondern richtet sich auf die Errungenschaften
des Jahres (Wein=Ernte) und auf die Hoffnung
neu erwachender Kräfte im nächsten Frühling.
Autor des Textes: Winfried Neubert
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Meine Meinung geht dahin, dass das nachfolgende Zitat des Oktoberliedes
von 1848 auch 2017 nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat.
"In der Erfahrung der Natur, so die Interpretationsrichtung,
finde der Mensch Heilung von den seelischen Verletzungen,
die ihm von der garstigen Tagespolitik geschlagen wurden."
~
Ein grünes Blatt
Ein Blatt aus sommerlichen Tagen,
Ich nahm es so im Wandern mit,
Auf daß es einst mir möge sagen,
Wie laut die Nachtigall geschlagen,
Wie grün der Wald, den ich durchschritt.
Aus Theodor Storm's gesammelte Schriften, 1872
"Erstes Buch"
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